Ist der ›Golden Circle‹ noch relevant?

Written by
Benjamin Clemens Nuebel
September 20, 2024

Stell Dir vor, Du gehst zum Psychiater. Vielleicht fühlst Du Dich erschöpft, gestresst, oder Du willst einfach nach dem Rechten sehen lassen. Du wirst aufgerufen, setzt Dich und willst gerade damit beginnen, Deine Situation zu schildern. Da steht der Arzt urplötzlich auf, springt zum Flipchart und zeichnet drei ineinanderliegende Kreise. 

»Das da«, sagt er und deutet auf sein Kunstwerk, »das bist Du.« Überrascht schaust Du aufs Flipchart. Du hattest Dich anders in Erinnerung. Jetzt schreibt der Psychiater aufgeregt drei Begriffe in die Kreise. »Dein Wesen besteht aus diesen drei Einheiten«, sagt er, während er mit dem Filzstift auf den äußersten Kreis tippt. 

»Das da ist Dein ›Über-Ich‹. Das steht für die moralischen Werte und gesellschaftlichen Normen der Außenwelt, die auf Dich wirken. Und hier drinnen« – jetzt zeigt er auf den Mittelkreis – »hier befinden sich Deine Triebe und Instinkte, Deine ursprüngliche Natur: Dein ›Es‹. Und hier, der Kreis dazwischen, das ist Dein ›Ich‹. Es, also Ich, äh, haha, also ich meine Dein ›Ich‹, nimmt eine Vermittlerposition ein – zwischen den naturgegebenen Impulsen aus Deinem Innersten und den Anforderungen der Außenwelt.« Du nickst andächtig. Klingt erst mal ganz logisch. 

Dann fährt der Psychiater fort: »Denke immer daran: Dein ›Ich‹, das sind weder Deine Instinkte, noch was die Anderen über Dich denken sollen, sondern es ist exakt die Vermittlung dazwischen.« Während Du noch überlegst, warum er Dir das alles erzählt hat, überreicht er Dir ein eng nummeriertes Blatt Papier und sagt, »Das macht dann 200.000 Euro bitte.« 

Das ist tatsächlich die Höhe der Gage, die der amerikanische Autor und Speaker Simon Sinek inzwischen für einen Vortrag verlangt. Und wer will es ihm verdenken? Von ihm stammt das beliebteste Framework, das Branding und Marketing je gesehen haben: der sagenumwobene ›Golden Circle‹. 

Seit anderthalb Jahrzehnten hält der Siegeszug von Sineks Modell bereits an. Das Video seines ›Ted Talks‹ wurde über 40 Millionen mal abgespielt. Das Buch ›Start with Why‹ ist in 47 Sprachen übersetzt worden. Vom Konzern über den Mittelständler bis zum Start-up, überall malt man die drei Kreise und gemahnt sich: Start With Why! (bevor man alle 3 Fragen: Why, How, What? beantwortet)

Für Branding Experten wie uns ist der ›Golden Circle‹ Fluch und Segen zugleich. Wie könnte es auch anders sein? Die Geister, die Simon Sinek rief, sind so allgegenwärtig, dass man nicht um sie herum kommt. Umso wichtiger ist es, sich klarzumachen, was dieses Leadership Konzept wirklich leisten kann — und was nicht. 

Simon Sineks ›Golden Circle‹ ist ein Segen

Drei simple Kreise. Drei einfache Worte. Fertig ist das Mo(ndgesicht)dell. Das ›Golden Circle Modell‹ ist das barrierefreiste Marken-Schema, das man sich vorstellen kann. Es kommt ganz ohne Jargon aus und ersetzt die hochtrabenden Fachbegriffe des Marketings durch Fragen, die so trivial sind, dass ein Kind sie stellen könnte. »Was machen wir? Wie machen wir es? Warum machen wir es?« 

Der Trick liegt dann darin, diese Reihenfolge umzukehren. Indem wir beim ›Warum‹ starten, fundieren wir unser oberflächliches Handeln mit einem tieferliegenden Zweck. Der Theorie nach werden wir schon dadurch einzigartig, authentisch und, Achtung Buzzword, ›wertebasiert‹. 

Diese Einfachheit ist enorm erfrischend in einem Feld, das sich gerne wichtig nimmt und dazu neigt, noch die banalsten Plattitüden hinter clever klingender Rhetorik zu verstecken. Und der Insight – people don’t buy what you do, they buy why you do it – ist betörend. Ob Positionierung, Loyalty oder Pricing: wenn Sineks Hypothese stimmt, dann eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten, um aus dem Wettbewerb hervorzustechen: nämlich durch den ›Purpose‹ als sinnstiftendem Charakter, der erfolgreiche Unternehmen von innen nach außen durchwirkt. 

Das Heilsversprechen von why, how, what?

Das Heilsversprechen der simplen goldenen Kreise lautet, dass derjenige gewinnt, der es schafft, Haltung (why), Kultur (how) und Offering (what) gesamtheitlich zu denken. Das ist, wie wir gleich sehen werden, zwar nicht ganz richtig. Aber vor allem ist es nicht falsch. Die größte Errungenschaft, die Sinek zuzuschreiben ist, liegt darin, dass er die sogenannten ›intangibles‹ wie Marke, Messaging und Werte auf breiter Front zur Chefsache gemacht hat. 

Noch bis in die Nullerjahre war die ›von oben‹ geführte Auseinandersetzung mit diesen Themen höchstens in den Bereichen FMCG und Lifestyle präsent. Doch schon bald nach der Welturaufführung des ›Golden Circle‹ 2009 lag er auf den Lippen von Vorständen und CEOs aus praktisch allen Branchen. Das hatte zur Folge, dass Markenmacher:innen und Marketeers plötzlich am Erwachsenentisch der Kaufleute und Ingenieur:innen sitzen durften. Um es klar zu sagen: ein Geschäft wie unseres profitiert auch heute noch von der Zeitenwende, die mit Simon Sineks Vortrag ihren Anfang nahm. 

Der ›Golden Circle‹ ist ein Fluch

Es ist, so gesehen, fast undankbar, sich über das von Simon Sinek entwickelte Modell zu beschweren. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die breite Anwendung des ›Golden Circle‹ mitunter Unheil angerichtet hat. Das zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in dem Gefasel, das daraus resultierte, der eigenen Unternehmung einen übergeordneten Sinn zuzuschreiben. 

In Sineks berühmtem Beispiel verkauft Apple keine Smartphones oder Computer, sondern »die Haltung, immer den Status quo herauszufordern.« Und so reichte es Kraft Heinz plötzlich nicht mehr, das beste Ketchup der Welt herzustellen. 

Wie in zigtausend anderen Firmen begann man dort, die Sinnstiftung rückwärts zu denken. Sprich: Worin könnte der Purpose bestehen, aus dem das weltbeste Ketchup hervorgeht? Natürlich »by being the best food company, growing a better world.« Noch theatralischer formulierte es WeWork, dessen Gründung mitten in den frühen ›Golden Circle‹ Hype fiel. Dort vermietete man nicht einfach Büroplätze; der Sinn lag darin »to elevate the world’s consciousness«.

Der Vorsatz, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ist in den frühen 10er Jahren derart zum Klischee geworden, dass die Parodie-Serie Silicon Valley ihr eine ganze Folge widmete. 

Es kam so, wie es kommen musste. Nach und nach stellte sich heraus, was kritische Betrachter:innen früh ahnten: der ›Golden Circle‹ von Simon Sinek kann manche Unternehmen gut beschreiben – aber die meisten nur unzureichend. Mit ›warum‹ zu starten, leuchtet ein, wenn man Innovationsführer oder Künstler:in, eine NGO oder Patagonia ist. Für solche Firmen funktioniert das Framework perfekt. 

Die übrigen 99% der Unternehmen aber — die Dienstleister:innen und Handelsmarken, die Konzerne und Gewerbetreibenden – müssen ihren Purpose wie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern. Das Ergebnis ist dann gerade nicht die Authentizität, die Sinek versprochen hatte, sondern ihr  Gegenteil: ein vages, gutmenschelndes Gesäusel, das im besten Fall nur ablenkt — und im schlimmsten Fall verprellt.

Wir sprechen aus Erfahrung. Im Sommer 2022 hatten wir unseren bis dahin größten Auftrag verloren, weil es uns nicht gelungen war, den ›Purpose‹ eines SaaS-Unternehmens zu verfassen. Das lag einerseits an der simplen Tatsache, dass Online Tools in aller Regel keinen weltrettenden Auftrag haben. Es lag aber nicht zuletzt daran, dass wir diesen Purpose erfinden sollten: ohne Input, ohne Interviews, einfach frei Schnauze. Es war ein Himmelfahrtskommando, das unmittelbar zur Aufkündigung des Vertrags geführt hatte. 

Ist der ›Golden Circle‹ heute noch relevant?

Die eingangs erwähnte Anekdote hat ganz bewusst auf den Denker verwiesen, dem wir den Dreiklang aus ›Ich, Es und Über-ich‹ verdanken: Sigmund Freud. Die moderne Psychologie ist seiner Arbeit längst entwachsen; er wird heute eher als Literat und Kulturkritiker denn als Mediziner gewürdigt. Aber das ändert nichts an seiner Legende. Erst Freud hat die menschlichen ›intangibles‹ – die Psyche – salonfähig und modern gemacht. 

Womöglich darf man über Simon Sinek eines Tages dasselbe sagen. Ja, der ›Golden Circle‹ ist mithin unterkomplex und für viele Unternehmen ungeeignet. Aber trotz dieser Einschränkungen begrüßen wir alles, was die Entscheider:innen-Ebene dazu bringt, über ihr Branding nachzudenken. 

Das Modell macht auch inhaltlich valide Punkte, denn die führenden Marken zeichnen sich ja tatsächlich dadurch aus, dass sie ihren Charakter und ihr Offering integriert denken. Als Startpunkt für eine Auseinandersetzung mit der Brand Experience kann die ›Golden Circle Methode‹ ein tolles Hilfsmittel sein. 

Eine inhaltlich belastbare Markenarbeit geht freilich weit über die drei Kreise hinaus. Sie berücksichtigt die Kund:innen ebenso wie das Nutzererlebnis  — um nur zwei Facetten zu nennen, die in Simon Sineks »Why, How, What« unterbelichtet bleiben. (Die Achsen, die für unseren Prozess am wichtigsten sind, nennen wir ›Brand Foundations‹, wie unten zu sehen.) 

Eine gute Branding Agentur ist außerdem situativ und elastisch genug, um auf die konkrete Situation des Unternehmens einzugehen. Gerade im Branding gilt: one size never fits all. Die Anzahl der Unternehmen, die glaubhaft durch ihren Purpose agieren können, ist erstaunlich klein. 

Aber die gute Nachricht lautet: es gibt eine Vielzahl an Distinktionsmöglichkeiten, die bei den meisten Firmen nicht im ›why‹, sondern im ›what‹, im ›how‹ oder im ›ganzwoanders‹ stecken. Eine gute Branding Agentur weiß schnell, wo sie suchen muss.

P.S.: Wenn wir mit unseren Kunden die Brand Foundations erarbeiten, glaubt der Großteil, dass die Distiktion in der ›Vision‹ liegt. Überraschenderweise, liegt sie aber doch oft in den ›Origins‹ und dem ›Character‹.